Matthias M. Tischler

Bible Manuscripts as Modes of Perception and Transformation of the World of the Others


Banyoles_Arxiu Comarcal del Pla de l'Estany_Bible of Flavià_verso_detail

Die Bibel ist bislang das einzige Buch, das den UNESCO-‘Welterbe&rsqou;-Status erlangt hat. Ihr kultureller Einfluß auf das europäische Mittelalter war nachhaltig und dieser wurde schon aus vielen verschiedenen Perspektiven von Theologen, Historikern, Literaturwissenschaftlern und anderen Fachvertretern untersucht. Doch es bleibt immer noch viel zu tun, insbesondere in jenen Bereichen, in denen der Einfluß der Bibel nicht so unmittelbar offenkundig ist. Hier ist etwa an die Rolle zu denken, die biblische Vorbilder für die Ausbildung von Identität und Verschiedenheit und für die Wahrnehmung von Volkzugehörigkeit und ‚Andersheit‘ gespielt haben. Welches Verhältnis nahm das Christentum als ‚Universalreligion‘ zu den jeweiligen Gemeinschaften und Identitäten und insbesondere zu anderen Religionen ein? Das Projekt möchte dieser Fragestellung weitestgehend folgen, sie jedoch aus der besonderen transkulturellen Perspektive der Iberischen Halbinsel des 8. bis 12. Jahrhunderts betrachten. Die geschichtswissenschaftliche Annäherung an das ‚Buch der Bücher&rsqou; aus der transkulturellen Perspektive ist bislang eher vernachlässigt worden. Wie sah die Beziehung der Bibel zu anderen heiligen oder sakralen Schriften aus, zum Beispiel zum Koran der Muslime oder zu Tanach und Talmud der Juden? Und wie beeinflußte die Bibel die Wahrnehmung der anderen religiösen Kulturen und deren Wechselbeziehung zu den Christen in den Bereichen der Liturgie, der Geschichtsschreibung und der Polemik?

Eine moderne Geschichte der Bibel in der Iberischen Welt bis zum Hochmittelalter fehlt bis heute. Dies ist mehr als nur ein beklagenswerter Zustand der Forschung, da grundlegende kodikologische und paläographische Untersuchungen zu den wichtigsten iberischen Bibelhandschriften, insbesondere durch Samuel Berger, Donatien de Bruyne, Bonifatius Fischer, Teófilo Ayuso Marazuela, Ana Suarez González und Paolo Cherubini, die Landschaft der Produktion und Rezeption des erneuerten Bibelerbes zu rekonstruieren begannen, ohne den neuen transreligiösen und transkulturellen Kontext dieser Aktivitäten in den Blick zu nehmen: Wir wissen viel (aber nicht wirklich im Detail) über die Herstellung der großen westgotischen und karolingischen Bibeln (erhaltene Pandekten, Fragmente und bezeugte, aber verlorene Handschriften) und wo diese Produktion stattfand, und wir kennen auch die Rolle der westgotischen und karolingischen Bibelausgaben des Peregrinus, Isidor von Sevilla, Theodulf von Orléans und Alkuin von Tours innerhalb der allgemeinen Geschichte der Vetus Latina und der Vulgata. Zudem haben die eben erwähnten Forscher den Import von Bibeltexten aus dem Westfrankenreich und aus Septimanien in die nördlichen und nordöstlichen Teile der Iberischen Halbinsel aufzeigen können. Dieser Prozeß setzte sich fort, bis der neue, in Frankreich entwickelte Typ der glossierten Bibelhandschrift des 12. und frühen 13. Jahrhunderts in Form von charakteristischen vielbändigen Sammlungen die Zentren und Peripherien der scholastischen Bibelstudien zu dominieren begann. Die Spezialforschung hat bereits einzelne herausragende lateinische Bibeln bestimmen können, die mit mozarabischen Gemeinschaften aus al-Andalus in die Regionen des christlichen Nordens der Halbinsel gelangt sind. Dieses Phänomen hat dazu beigetragen, diese und andere hochwertige Erzeugnisse der lateinisch-christlichen Buchproduktion als kulturelle Leuchttürme jener sich wiedererhebenden Gesellschaften zu verstehen, die für die territoriale, religiöse, kulturelle und intellektuelle Reconquista verantwortlich waren. Objekte wie die Biblia Hispalensis aus Córdoba, die später nach Sevilla gegeben wurde, sind hierbei als Zeugnisse des christlichen Widerstandes gegen die muslimische Herrschaft und als zentrales Mittel zur Verbreitung der spezifisch christlichen Weltwahrnehmung in Raum und Zeit verstanden worden. Dennoch besitzen wir immer noch keine Landkarte des religiösen und intellektuellen Widerstandes der Christen im Spiegel des gesamtiberischen Panoramas der Bibelproduktion und der Rhythmen der Herstellung und produktiven Verarbeitung ganzer Bibelausgaben (in ein oder mehreren Bänden) und einzelner Bibelbücher.

Vor dem Hintergrund der zeitgleichen Geschichtsschreibung wird das Projekt die individuelle Stellung ganzer Buchgruppen oder einzelner Bücher innerhalb des Bibelkanons, die Illumination und den häufigen Gebrauch bestimmter Bücher (anhand von Randnotizen, Kommentaren, Tintenflecken etc.) untersuchen, um die anthropologischen, sozialen, religiösen und theologischen Interessen ihrer zeitgenössischen und späteren Auftraggeber, Leser und Besitzer zu bestimmen. Wurden die Bücher des Pentateuch verstanden als Geschichte und Gesetz eines Neuen Hispanischen Israel? Wurden die Größeren und Kleineren Propheten und die Johannes-Apokalypse als typologische Vorbilder für prophetische und visionäre Entwürfe der eigenen Zeit ausgelegt und welche Beziehung kann zwischen dem Buch Daniel und der Johannes-Apokalypse anhand ihrer Stellung und Illumination in den Bibeln abgelesen werden? In welchen Zusammenhängen finden wir hier Repräsentationen des Heiligen Kreuzes sowie christologischer und messianischer Themen, aber auch Darstellungen der Feinde Gottes und seines auserwählten Volkes? Und welchen Zweck hatte die Überlieferung der sog. Apokryphen, der biblischen Paratexte (Prologe, Argumente, Kapitelverzeichnisse usw.) und der außerbiblischen Texte, wie sie uns in dem erstaunlich reichen Fundus an komputistischen, chronologischen, genealogischen, prophetischen und sybillinischen Texten vieler mittelalterlicher Bibeln der Iberischen Halbinsel entgegentritt?